26. November 2018
Demokratie braucht Inklusion
Für barrierefreies Bauen braucht man ebenso Fachwissen wie Augenmaß. Der demografische Wandel sowie der Auftrag der Inklusion erfordert von allen Baubeteiligten eine intensive Beschäftigung mit dem Thema Barrierefreiheit. Die inklusive Gestaltung von Stadtraum und Wohnungen leistet einen bedeutenden Beitrag zur selbstbestimmten Lebensführung von Menschen mit Behinderungen und älteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Ziel soll es sein, eine inklusive Umgebung zu schaffen, von der Menschen mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen genauso profitieren wie die breite Allgemeinheit – so wie es auch Artikel 9 der UN-Behindertenrechtskonvention verlangt.
Jürgen Dusel, der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, hatte daher am 19. November gemeinsam mit der Bundesarchitektenkammer, der Architektenkammer Rheinland-Pfalz, der Architektenkammer des Saarlandes und in Kooperation mit dem Sozial- und dem Finanzministerium sowie dem Landesbeauftragen für die Belange behinderter Menschen Rheinland-Pfalz zur Regionalkonferenz »Inklusiv gestalten – Ideen und gute Beispiele aus Architektur und Stadtplanung« in die Hochschule Kaiserslautern, Campus Kammgarn, eingeladen.
Professor Dr. Hans-Jürgen Schmidt, Präsident der Hochschule Kaiserslautern, sah seine Hochschule in Sachen Inklusion ganz vorne. Dafür sei der Neubau der Aula, in der die Veranstaltung stattfand, ein guter Beleg, so Schmidt in seiner Begrüßung: „Wir bleiben aber nicht beim Bau stehen. Für uns sind Barrierefreiheit und Inklusion Teil unserer Philosophie. Wir wollen die Konzepte leben und weiterentwickeln“.
Dieses kooperative Klima bestätigte Matthias Rösch, Landesbeauftragter für die Belange behinderter Menschen in Rheinland-Pfalz. Mit der Frage, ob er sich mit seinen Themen gehört sehe, hatte die Moderatorin des Abends, Katrin Müller-Hohenstein, den Eröffnungstalk begonnen. Er nannte als eines der sehr positiven Beispiele den eben entschiedenen Wettbewerb um die Revitalisierung der Ruine Burg Schwalbach. Trotz allen Lobes sah er aber auch noch Aufgaben. So sei es eine besondere Herausforderung für inklusive Planungsverfahren, die Blinden und Sehbehinderten in die Diskussionen einzubinden. Ihnen den Planungsstand zugänglich zu machen, sei keineswegs trivial. Einig war sich die Runde mit Sozialministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler, Gerold Reker, dem Präsidenten der Architektenkammer Rheinland-Pfalz und den Behindertenbeautragten des Bundes, Jürgen Dusel, des Saarlandes, Christa Rupp und aus Rheinland-Pfalz, Matthias Rösch, in der Einschätzung, dass Inklusion, wo sie an praktische Einschränkungen stößt, auf den kooperativen Austausch aller und die Bereitschaft zum Dialog angewiesen sei. Dieser Leitgedanke zog sich durch die gesamte Veranstaltung.
Demokratie braucht Inklusion
Dennoch: Jürgen Dusel machte klar, dass man von der konsequenten Anwendung des „Zwei-Sinne“-Prinzips noch immer ein gehöriges Stück entfernt sei. Diese Lücke kleiner zu machen, darin sah Dusel eine seiner Hauptaufgaben, denn: „Demokratie braucht Inklusion“. In einer demokratischen Gesellschaft müssten alle eingebunden werden – nicht nur Menschen mit Behinderungen, sondern schlicht alle, unabhängig von Geschlecht, Nationalität, Bildungsgrad, Einkommen, Lebensalter oder Gesundheit.
Gerold Reker, Präsident der Architektenkammer Rheinland-Pfalz, schloss sich dem gerne an. „Die Architektenkammer hat Inklusion zu einem ihrer aktuellen Schwerpunktthemen gemacht. Wir freuen uns daher sehr, dass die breite Front der Veranstaltungspartner gerade bei unserer Regionalkonferenz diesen Fokus und auch die erfolgreiche, kooperative Zusammenarbeit in unserem Land spiegelt." Das Verständnis für einen solchen Ansatz müsse bei allen Beteiligten von Planungsprojekten immer wieder geschaffen werden – von der kommunalen Baupolitik über die Investoren bis zum Verbraucher, betonte Reker.
Hierfür wurden in der Gesprächsrunde professionelle Expertise und Qualitätsstandards gefordert. Durch das fallweise Einbinden eines Betroffenen könne dies nicht, jedenfalls nicht systematisch, erreicht werden. Barrierefreiheit sei nicht nebenbei zu bewerkstelligen und auch nicht alleine aus der eigenen Erfahrung, sondern bedürfe professionellen Wissens. Die rheinland-pfälzische Ministerin für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie, Sabine Bätzing-Lichtenthäler, griff diese Anregung gerne auf. Denn: „Menschen mit Behinderungen wollen selbst entscheiden, wo und in welcher Nachbarschaft sie leben möchten. So wie jeder und jede andere auch. Deshalb ist umfassende Barrierefreiheit Voraussetzung für gleichberechtigte Teilhabe und unseren gemeinsamen Auftrag aus der UN-Behindertenrechtskonvention“, so Bätzing-Lichtenthäler. Eine Voraussetzung dafür, dass dieser Anspruch umgesetzt werde, sei neben der Bereitschaft der Bauherren, das Thema selbstverständlich von Anfang an mitzudenken, eine hohe Expertise bei Architekten aller Fachrichtungen. Für die öffentlichen Bauherren sahen Bätzing-Lichtenthäler und der Landesbeauftragte Matthias Rösch positive Entwicklungen. Im Bereich der privaten Bauherren sei inklusives Bauen noch immer eher ein „add-on“ als pure Selbstverständlichkeit.
Hier gossen die Beauftragten ein wenig Wasser in den Wein: Auch am eigentlich barrierefreien Neubau der Aula sahen sie Optimierungsmöglichkeiten. So war die Bühne zwar durch einen Lift erreichbar, der war allerdings so langsam, dass die Gesprächsrunden immer mal auf einen Teilnehmer warten mussten. Im vollsten Sinn selbstverständliche Teilhabe sei so nicht gegeben. Zudem fehlt der Bühnenkante ein Farbkontrast…. An der Einschätzung, in einem alles in allem gelungenen Bau zu Gast zu sein, änderten diese Anmerkungen jedoch nichts.
Einen ganz anderen Zugang zum Thema Wahrnehmung hatte Dr. Hildegard Ameln-Haffke von der Hochschule Köln. Unter dem Titel „Ich fühle was, was Du nicht siehst“ berichtete sie aus den Bereichen Kunstpädagogik und Kunsttherapie. Sie nahm das menschliche Grundbedürfnis von ästhetischer Wahrnehmung als gemeinsamen Erfahrungshintergrund. Ästhetische Wahrnehmung sei individuell unterschiedlich, aber nicht wahr oder falsch – und „Kreativität erhöht Problemlösungspotenziale“, so Ameln-Haffke und rief das Publikum dazu auf, über den Tellerrand des Zähl- und Kalkulierbaren hinaus zu blicken.
In zwei Praxisbeispielen wurde inklusives Bauen vorgestellt: Architekt Peter Fern, für die Arbeitsgemeinschaft der Planung: Peter Fern/Esther Karcher und Arno Weber als Vertreter der Bauherrengruppe präsentierten das Projekt „Wohnpark 1“ in Landau. Dr. Wilfried Hoffmann und Helena Backes vom Landesbetrieb Liegenschafts- und Baubetreuung, Niederlassung Idar-Oberstein, referierten gemeinsam mit Heike Zapp, Behindertenbeirat der Stadt Bad Kreuznach, über die Planungen für das „Justizzentrum" in Bad Kreuznach.
Marc Derichsweiler und Bianca Klein vom Ministerium der Finanzen Rheinland-Pfalz gaben Einblick in die beiden Handreichungen „Barrierefrei Bauen – Leitfaden für die Planung“ und „Barrierefrei Bauen – Empfehlungen für den Wohnungsbestand“. Das Ministerium der Finanzen hatte die beiden Handbücher, die aktuell in die zweite Auflage gehen, 2017 gemeinsam mit dem Sozialministerium herausgegeben. Anliegen der beiden Ministerien war es, die Umsetzung der seit der letzten Novelle der Landesbauordnung angehobenen Quote verpflichtend barrierefrei herzustellender Wohnungen, durch die Handreichung praxisnah zu unterstützen.
Welche Rolle der Wohnungsbau beim Thema Inklusion spielt, machte auch Jürgen Dusel nochmals deutlich: „Wohnen ist ein Menschenrecht. Dennoch ist vielen Menschen mit Behinderungen der gleichberechtigte Zugang zu Wohnraum versperrt. Es gibt zu wenig barrierefreie und auch bezahlbare Wohnungen in Deutschland. Da müssen wir deutlich besser werden, denn Barrierefreiheit ist die Voraussetzung für Handlungsfreiheit. Sie eröffnet die Möglichkeit, selbstbestimmt zu leben und an der Gesellschaft teilzuhaben. Barrierefreier Wohnraum hat eine starke soziale Dimension und ist für eine inklusive Gesellschaft unerlässlich. Auch Familien mit Kindern oder ältere Menschen profitieren davon“, erläuterte Dusel.
Die Schlussrunde des Abends weitete dann nochmals das Thema vom konkreten Beispiel zum Grundsätzlichen und zur Digitalisierung. Dr. Jan Alexandersson vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz in Saarbrücken zeigte einerseits auf, welche faszinierenden Möglichkeiten technische Innovationen und Künstliche Intelligenz bieten können, um Einschränkungen zu überwinden. Gleichzeitig machte er klar, dass menschliches Miteinander nicht durch technoide Lösungen zu ersetzen sei. Wie viel und welche technische Unterstützung man in Anspruch nehme, müsse man selbst entscheiden können, dies sei eine Frage von Menschenrecht. „Künstliche Intelligenz ist wie ein Messer, man kann Brot oder Hälse damit abschneiden“, so Dr. Alexandersson und rief zu reflektiertem und sensiblem Umgang mit den neuen Möglichkeiten technischer Unterstützung auf.
Die nötige Sensibilisierung dazu sei, dies das Fazit der Runde, durch Veranstaltungen wie die Regionalkonferenz in Kaiserslautern, ein Stück vorangekommen. An der Schlussrunde nahmen der Vizepräsident der BAK Martin Müller, Jürgen Dusel, Dr. Jan Alexandersson und Hermann-Josef Ehrenberg, Vorstandsmitglied der Architektenkammer Rheinland-Pfalz, teil.
Zum Weiterlesen:
- "Ich fühle was, was Du nicht siehst"
Wahrnehmungsräume - Erfahrungsräume - Erlebnisräume.
Barrierefreiheit und Inklusion. Impulse aus ästhetischer Sicht.
Dr. phil. Hildegard Ameln-Haffke, Köln. MEHR
Archivbeitrag vom 26. November 2018