Nachhaltiges Bauen - Gebäudebestand entwickeln | Positionspapier

Deutschland hat sich verpflichtet, bis 2045 klimaneutral zu werden. Rheinland-Pfalz möchte dieses Ziel bereits bis spätestens 2040 erreichen. Zentrale Bedeutung kommt dabei Gebäuden zu, da sie enorme Ressourcen verbrauchen: Der Betrieb von Gebäuden ist für rund 40 Prozent des gesamten Energieverbrauchs im aktuellen fossil-basiertem Energiesystem verantwortlich – ganz zu schweigen von den damit verbundenen CO2-Emissionen. Hinzu kommt: Der Anteil von Bau- und Abbruchabfällen am gesamten Abfall-Aufkommen in Deutschland liegt laut DENA-Gebäudereport 2021 bei knapp 60 Prozent.

Betrachtet man den gesamten Lebenszyklus eines energieeffi zienten Neubaus, so entfallen auf den reinen Betrieb inzwischen nur noch rund die Hälfte der Treibhausgasemissionen des Gebäudes. 50 Prozent aller negativen Effekte sind also schon für den Bau entstanden. Bei Neubauten auf dem aktuellen energetischen Standard ist der Hebel somit schon bei der Herstellung anzusetzen.

Daran wird deutlich: Die Klimaziele können nur erreicht werden, wenn alle Einsparpotenziale des Bausektors mit seinen vor- und nachgelagerten Prozessen – Herstellung und Entsorgung von Baumaterialien und Errichtung, Erhalt und Rückbau von Gebäuden – ausgeschöpft werden. Deswegen müssen Förderungen und baurecht liche Vorgaben am gesamten Lebenszyklus des Gebäudes ausgerichtet werden. Mit anderen Worten: Der Wohnungsbau benötigt eine umfassende Modernisierungsoffensive!

Alle klimaschutzpolitischen Maßnahmen müssen unter Berücksichtigung der ökonomischen und sozialen Aspekte sowie der technischen und baukulturellen Qualität getroffen werden. Dies gelingt in der Regel nicht durch die Betrachtung eines einzelnen Gebäudes. Vielmehr müssen größere Einheiten in den Fokus rücken, um die Potenziale ausschöpfen zu können.

Die Architektenkammer Rheinland-Pfalz und die rheinland-pfälzische Wohnungswirtschaft sehen vier Handlungsschwerpunkte:

      

Mehr denn je in den beiden zurückliegenden Jahren: Die Preise für den Neubau konventionell gefertigter Wohngebäude lagen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Mai 2022 um 17,6 Prozent höher als im Mai 2021 – der höchste Anstieg seit 1970. Bei der Sanierung und Modernisierung sind ähnliche Kostensteigerungen zu verzeichnen. Die Vereinbarkeit von Klimaschutz und bezahlbarem Wohnen wird damit zunehmend schwieriger, wenn nicht gar unmöglich.

Weder Mieter noch Vermieter können die Kosten zur Erreichung der Klimaziele im Gebäudebestand alleine tragen. Eine verlässliche und gute Förderpolitik ist daher sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene unverzichtbar. Sie muss die richtigen Anreize und Rahmenbedingungen setzen, um klimagerechtes und bezahlbares Wohnen zu ermöglichen. Die soziale Wohnraumförderung ist ein wichtiger Baustein. Unterstützung müssen aber gerade auch die Menschen erfahren, die über den Einkommensgrenzen liegen.

Entscheidend für den nachhaltigen Erfolg einer Förderung ist zunächst die Mittelausstattung. Diese muss langfristig in ausreichender Höhe angelegt sein, um den Planungszyklen der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft gerecht zu werden. Hinzukommen müssen attraktive Förderkonditionen, die regelmäßig an sich verändernde Rahmenbedingungen angepasst werden. Eine moderne und effiziente Förderung zeichnet sich etwa dadurch aus, dass sie sich nicht nur auf die Dämmung von einzelnen Gebäuden fokussiert, sondern an der CO2-Vermeidung orientiert und größere Zusammenhänge in den Blick nimmt, z.B. in Form von Quartieren.

➔ Wir plädieren für:

  1. langfristig verlässliche Förderprogramme von Bund und Land
  2. Verstetigung von Fördermitteln auf hohem Niveau
  3. attraktive Förderkonditionen, die regelmäßig angepasst werden
  4. Förderung von CO2-Vermeidung oder -Reduzierung (z.B. bei Einsatz ökologischer Baustoffe oder Dach- und Fassadenbegrünung), nicht von Dämmschichten
  5. keine ausschließliche Betrachtung von Einzelgebäuden, stattdessen verstärkt Quartiere in den Blick nehmen

        

Denn so erschließen sich neue Effi zienzpotenziale und Handlungsoptionen – auch unter Einbeziehung mehrerer Eigentümer. Das Quartier sollte die relevante Entscheidungsebene werden.

Eine großräumigere Betrachtung ermöglicht den Ausgleich technischer und wirtschaftlicher Restriktionen und Potenzialgrenzen und führt zu Synergieeffekten. Wenn umfangreichere, auch über die Vorgaben für das einzelne Gebäude hinausgehende Effi zienzsteigerungen realisiert werden, können Gebäude, die einzeln nicht sinnvoll auf die aktuelle Norm saniert werden können, verbessert und gehalten werden. Das Quartier erreicht im Verbund, was im Einzelgebäude nicht möglich ist.

Ebenfalls wichtig: Das Ziel der CO2-Einsparung sollte technologieoffen verfolgt werden.

Sollen der Flächenverbrauch reduziert und gleichzeitig angemessene Grün- und Freifl ächen integriert werden, muss eine entsprechende Innenentwicklung erfolgen. Von Anfang an sollte dabei die Energieversorgung mitgedacht werden. Denn auch die Strom- und Wärmeversorgung im Quartier hat Potenzial – insbesondere in Kopplung mit der Mobilität. Neben der klassischen Fernwärme besteht die Option, kleinere Wärmenetze als Inselnetze, gespeist durch erneuerbare Energien, industrielle oder gewerbliche Abwärme, neu im Bestand zu etablieren (sogenannte „Keimzellen“).

➔ Wir plädieren für:

  1. Vorrang für die Innentwicklung zur Schaffung neuen Wohnraums vor der Neuversiegelung von Flächen unter anderem durch Öffnung von Abstands- und Stellplatzregeln
  2. Aktivierung von Leerstand mittels Sonderförderung
  3. Prüfung und Berücksichtigung des Keimzellenpotenzials, also der energetischen Mitversorgung umliegender Gebäude
  4. Förderung auch nichtinvestiver Maßnahmen wie z.B. die Erstellung integrierter Quartiersentwicklungskonzepte
  5. Hinwirken auf Bundesebene, die Grenzen der Bilanzierungsebene vom Einzelgebäude auf das Quartier systemisch auszuweiten
  6. die Ermöglichung abweichender Maßnahmen und Standards am einzelnen Gebäude, wenn ein integriertes Quartierskonzept die Energieeffi zienz der Gesamtmaßnahme  sicherstellt.

        

Das Gebäudeenergiegesetz (GEG) ignoriert hingegen die beiden anderen energetisch relevanten Phasen: Rohstoffgewinnung/Planung/ Errichtung und Abriss/Rückbau/Wiederverwertung/Entsorgung.

Dabei ist gerade diese so genannte graue Energie entscheidend für die klimabilanzielle Beurteilung einer Baumaßnahme. Ein Beispiel: Aufgrund der aktuellen Förderbestimmungen kann es wirtschaftlich sinnvoller erscheinen, ein Gebäude abzureißen und einen Neubau zu errichten, als das bestehende Gebäude zu sanieren. Dadurch aber geht die schon in den Bestandsbauten gebundene Energie verloren. Zusätzlich wird neues CO2 durch die neue Baumaßnahme ausgestoßen.

Eine Fördersystematik, die auf die Reduzierung von CO2-Emissionen abzielt, sollte deshalb den gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes betrachten – und nicht nur die Nutzungsphase. Rechnet man die CO2-Verbräuche des Betriebs eines bestehenden Gebäudes gegen die des Baus und Betriebs eines Neubaus auf, dürfte eine maßvolle Sanierung oftmals die ökologisch sinnvolle Alternative darstellen. Förderpolitisch sollte dabei immer ein angemessenes Kosten-Nutzen-Verhältnis gewahrt bleiben.

Zudem stellt sich auch bei Modernisierungen die Frage, inwiefern dort hohe Energiestandards bei Einrechnung der aufzuwendenden grauen Energie Sinn ergeben. Möglich wäre auch ein bilanzielles CO2-Guthaben, wenn auf einen Neubau verzichtet wird.

Lebenszyklusanalysen ermitteln übersichtlich die Relation der gebundenen, grauen Energie eines zu sanierenden Bestandsgebäudes. Sie erlauben eine umfassende Abwägung der anfallenden Kosten und Ressourcenverbräuche der gesamten Planungs-, Bau-, Nutzungs- und Rückbauzyklen. Solche Zyklusanalysen sollten deshalb genauso wie Klima bilanzen gefördert werden.

➔ Wir plädieren für:

  1. die Ermittlung des gesamten Ressourcenaufwandes über den Lebenszyklus – inklusive der grauen Energie und aller Betriebskosten – als obligatorischem Bestandteil von Planung und Nachweisführung von Gebäuden. Diese Ermittlung sollte gefördert werden.
  2. entsprechende Nachweisverfahren, die einfach anwendbar und in den einschlägigen Förderbestimmungen sowie im Ordnungsrecht abgebildet werden. Immer neue Zertifi zierungen erscheinen nicht sinnvoll, auch weil sie wegen Überlastung der Zertifizierer Bauverzögerungen nach sich ziehen können.
  3. Bestätigung der Wirtschaftlichkeit bis zu einer Kostenäquivalenz von Sanierung und Ersatzneubau, vor allem bei Förderprojekten.

        

Sowohl Sanierungen als auch Weiternutzungen bieten Potenzial, um Ressourcen und Treibhausgas einzusparen, da sie Abfälle und den Verlust bereits aufgewendeter Emissionen vermeiden. Bauen im Bestand zeichnet sich gegenüber Neubauten zudem durch eine geringere Flächeninanspruchnahme und Bodenversiegelung aus.

Aktuell gleichen die Anforderungen für Änderungen an Bestandsgebäuden meist den Anforderungen für Neubauten (Abstandsflächen, Stellplätze, Schallschutz, Brandschutz etc.). Die daraus resultierenden Planungs- und Kostenaufwände behindern nötige Innenentwicklungen sowie rasche Sanierungen und führen letztlich zu mehr Abriss und Ersatzneubau als nötig. Wir benötigen daher eine „Umbauordnung“, deren Regelungen dazu motivieren, den Bestand erheblich leichter verbessern zu können.

Es sollte die Möglichkeit eröffnet werden, sogenannte technische Baubestimmungen unbeachtet zu lassen, wenn Bauherr und Architekturbüro dies ausdrücklich vereinbaren („Gebäudetyp E“ sowohl für die Bestandsentwicklung wie für den Neubau).

Die Wiederverwendung von Baustoffen und Bauteilen im Sinne von Urban Mining, Cradle-to-Cradle-Produkte und die Anwendung von Recycling- und sonstigen Sekundärbaustoffen muss umfassend ermöglicht werden.

 

➔ Wir plädieren für:

  1. die aktive Mitwirkung der Landesregierung an der Entwicklung einer Musterumbauordnung zur Einführung flexiblerer Regelungen für das Bauen im Bestand
  2. Berücksichtigung der Kreislauffähigkeit bei Planung und Errichtung von Neubauten mit Ausnahme der Regelungen zum Schutz von Leib und Leben; Fortgeltung der bauzeitlichen Standards bei der Bestandsentwicklung (Abstandsflächen, Schallschutz usw.)
  3. Pflicht für Kommunen, Bestandserhalt in den Stellplatzverordnungen zu privilegieren: Stellplatznachweispflicht bei Bestandserhalt aussetzen.
  4. eine Informationskampagne über die Klimaschutzpotentiale des Gebäudebestandes im Rahmen des Klimabündnisses.
  5. die Öffnung der Zulassungsbedingungen für wiederverwendete Bauteile und Baustoffe. Eine Privilegierung gegenüber Primärbaustoffen bei technisch gleichwertiger Anwendung bedarf der Förderung, um noch bestehende wirtschaftliche Nachteile auszugleichen.

        

                            

 

Positionen der Architektenkammer - Wahlprüfsteine 2021

Nachhaltiges Planen und Bauen war bereits Bestandteil der Wahlprüfsteine, die die Architektenkammer Rheinland-Pfalz zur Landtagswahl 2021 verfasst hat.