14. März 2013

Berufspolitik interdisziplinär

Porträt Hermann-Josef Ehrenberg
Hermann-Josef Ehrenberg
Foto: Heike Rost, Mainz

In der Juli-Ausgabe 2013 des DAB weist Vorstandsmitglied Hermann-Josef Ehrenberg auf die weitreichenden politischen und zivilgesellschaftlichen Folgen des Demografischen Wandels hin und thematisiert Selbstorganisation im ländlichen Raum als Lösungsansatz

Als der Vorstand der Architektenkammer 2012 gewählt wurde, hat er es sich selbstverständlich zur Aufgabe gemacht, die berufsrechtlichen und -fachlichen Belange für etwa 5.600 Architekten, Stadtplaner, Innen- und Landschaftsarchitekten gegenüber dem Gesetzgeber und in der Öffentlichkeit zu vertreten. Das hatten bereits viele andere Vorstände und Gremien in den Jahren und Jahrzehnten zuvor engagiert und kompetent ebenso getan. Viele Themen haben sich angeboten, wurden an die Kammer herangetragen und konnten in zahlreichen Initiativen, Wettbewerben, Veröffentlichungen und Preisverleihungen dokumentiert werden. Tradition hat das Thema Schulbau, besonders erfolgreich ist die strategische Verknüpfung mit der Weinwirtschaft, aktuell stehen die energetischen Herausforderungen an Bautechnik und Ästhetik im Vordergrund, und die rechtliche Zusicherung eines Betreuungsplatzes für Kleinkinder verschafft Aufträge und Aufgaben für Architekten, Innenarchitekten und Landschaftsarchitekten.

Der Vorstand will über diese konkreten politisch motivierten Bauaufgaben hinaus in ganz gezielter Weise an richtungweisenden gesellschaftsrelevanten Themen der Gegenwart und Zukunft konstruktiv mitwirken. Das sind dann nicht nur die Schlagzeilen der Tagespolitik, sondern dazu zählen auch und gerade strategische Probleme und Projekte, die sich erst beim zweiten Blick eröffnen und manchmal noch schwer zu vermitteln sind. Wir sind überzeugt, dass nur eine methodisch breite, interdisziplinäre und ganzheitliche Debatte Politik und Gesellschaft, letztlich unsere Kunden von der sachorientierten Kompetenz und Verantwortung des Berufsstandes überzeugen kann. Insofern ist die Berufspolitik der Architektenkammer keine Auftragsvermittlung und weit mehr als Marktbereitung, sie steht in der öffentlich-rechtlichen Verantwortung zur kompetenten und kritischen Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen Gemeinwesen.

Ein Thema ist von herausragender Bedeutung (vgl. z. B. BBSR-Online-Publikation, Nr. 06/2010) und fordert querschnittsorientierte Qualifikationen: der demografische Wandel. Landschaftsarchitekten und Stadtplaner kennen die geografischen und raumstrukturellen Folgen weit abseits der Ballungsräume und Kleinstädte seit langem. Nun hat eine kleine Arbeitsgruppe des Vorstandes sich auch dieses Themas angenommen und wird Impulse formulieren für eine integrierte berufspolitische Position. Diese darf sich sicherlich nicht auf die gelegentliche, zufällige oder auch grundsätzliche Bauaufgabe an Haus und Hof, an Friedhof oder Straßenbild ausrichten. Sondern die Erfahrungen aus dünn besiedelten, ähnlich strukturierten Regionen in Ostdeutschland, im österreichischen Burgenland oder in Nordbayern und Südschweden zeigen, dass systematische Lösungen interdisziplinär und funktional gesucht werden müssen. Letztendlich läuft die Diskussion darauf hinaus, über die grundgesetzliche Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen nachzudenken und die ungeschriebene Erwartungshaltung an nivellierte Regionalstandards infrage zu stellen.

Die aktuelle Planungswissenschaft fragt nach Selbstorganisation und ermuntert „Raumpioniere in ländlichen Regionen“, die bereit sind zur lokalen Selbstverantwortung.  Sie übernehmen Angebot und Organisation für Gesundheit und Soziales, technische Versorgung und Entsorgung, Mobilität, Kultur und Bildung, ähnlich organisiert wie dörfliche Nachbarschaftshilfe oder die Freiwillige Feuerwehr.

Da kann und muss der Berufsstand sich einbringen, nicht nur als Ingenieur und Gestalter, sondern mit seinem ganzheitlichen Selbstverständnis. Es geht um die aktive Teilnahme an einer staatspolitischen Debatte über die allgemeinen Leistungspflichten oder die Gewährung individueller, regionaler Selbstverantwortung. Das bedingt ein anderes Raumverständnis, aber auch eine Modifizierung traditioneller politischer Hierarchien, in denen das Ineinandergreifen zivilgesellschaftlichen und staatlichen Engagements neu ausgelotet werden muss. Letztendlich handelt es sich um eine politische Entscheidung über das Gesellschafts- und Staatsverständnis. Nicht zuletzt bedürfte es bestimmter Öffnungsklauseln beispielsweise für Normen und Richtlinien, die in der lokalen Selbstverantwortung eine andere Verbindlichkeit haben müssen als unter der hoheitlichen Aufsicht des Leistungsstaates.

Die Überlegungen sind unbequem und widersprechen dem etablierten Raumverständnis. Es ist primär eine politische Herausforderung, traditionelle Ansprüche an bestimmte staatliche Leistungen all überall der lokalen Verantwortung zu übertragen. Hierzu bedarf es noch vielfältiger Beratungen und interdisziplinärer Netzwerke (siehe z. B. demographie-online.de. MEHR) - vor allem über die politisch-territorialen und funktionalen Grenzen der Selbstverantwortung.

Im Bereich Planen und Bauen kann die Architektenschaft kompetent beraten. Vielleicht erlauben die Normen und Richtlinien in der dörflichen Selbstverantwortung einen bestimmten Spielraum, die fachliche Kompetenz der Architektenschaft bleibt umso dringender. Dass dabei auch haftungsrechtliche Aspekte Berücksichtigung finden müssen, zeigt eigentlich nur, welche Komplexität die Thematik insgesamt beinhaltet. Die eventuelle Bauaufgabe ist nur ein ganz kleiner Teil, den der Architekt beisteuern kann. Aber mit seiner ganzheitlichen Projektkompetenz kann er die Debatte maßgeblich mitgestalten sowie lokale und regionale Politikberatung leisten.

  

Archivbeitrag vom 14. März 2013