Ohne historisches Gedächtnis existiert keine Kultur. Dieses Gedächtnis steht in unmittelbarer Verbindung mit der geistigen Kultur der Gesellschaft. Aber wann fängt historisches Gedächtnis an?
Wir Fachleute wissen, wie schwierig es sein kann, Zeitgenossen zu überzeugen, ein konkretes Gebäude, eine Kirche oder ein Wohnhaus zu bewahren. Das gilt besonders für die Nachkriegsbauten seit 1945. Die Frage „Ist das Kunst - oder kann das weg?“, lässt viele spontan zum „weg“ tendieren. Es geschieht allerorten.
Der Abbruch des BASF-Hochhauses in Ludwigshafen war nur eines von vielen Beispielen. Bauliche Zeugnisse der jungen Bundesrepublik sind in Gefahr - oft durch Abbruch, häufig durch unsensible Umbauten, zunehmend aber durch verunstaltende energetische Sanierungen. Bei vielen dieser Bauten sind Sanierungen nach 40- oder 50jähriger Nutzung nötig. Die fachgerechte Erhaltung ist nicht immer leicht. Die Symbiose aus Alt und Neu einer Sanierung ist leichter gesagt als getan; die Anforderungen an einen sanierten, modernisierten Altbau sind durchaus „sportlich“.
Das diesjährige „Hambacher Architekturgespräch“ widmet sich den Bauten der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre des vergangen Jahrhunderts - damit der Zukunft des baukulturellen Erbes und dem baukulturellen Erbe der Zukunft. Der Wunsch nach einem „Hambacher Architekturgespräch“ resultierte aus den Erfahrungen und Diskussionen zum Umbau und zur Sanierung des Hambacher Schlosses. Der Ort war dabei selbst beredtes Beispiel für streckenweise vermintes Terrain. Es war aber auch Beispiel für einen Dialog, der danach einsetzte. Die Hambacher Architekturgespräche wollen an der Nahtstelle zwischen Architektur und baukulturellem Erbe Theorie und Praxis von Denkmalpflege und zeitgenössischem Bauen auf einer gemeinsamen Begegnungs- und Diskussionsplattform zusammenführen. Zu den unterschiedlichen, auch kontroversen Standpunkten und Perspektiven wollen die Hambacher Architekturgespräche renommierte Fachleute versammeln. Im Zentrum stehen keine vorgefertigten Referate, sondern in einem moderierten Gespräch werden die jeweiligen Sichtweisen einander auf der Grundlage eines kurzen fachlichen Impulses begegnen.
Das „Hambacher Architekturgespräch“ wird sich etablieren. Schön wäre es, wenn es mit den Jahren zu einer „Institution“ würde, die „ins Land ruft“ - als ein Baustein in einem Reigen, der sich auf der Ebene nationaler und internationaler Fachexpertise mit dem baukulturellen „Überbau“ des „Behütens“ und des „schmerzfreien Ergänzens“ beschäftigt. Denn: „Baukultur geht alle an!“, so oder so ähnlich tragen wir es als Kammern, Verbände oder Stiftungen nach außen. Und damit ist man schon in einer Zwangslage. Architekt Tim Rieniets, Geschäftsführer der Landesinitiative StadtBauKultur NRW, hat das in seinem 27. Baukulturstatement der Stiftung Baukultur behandelt: Erstens werden diese Appelle häufig nur von jenen gelesen, die es eh schon wussten: Von Architekten, Planern und anderen Fachleuten. Zweitens folgt diesen starken Appellen nur selten eine ebenso starke Erklärung. Warum geht denn Baukultur alle etwas an? Und drittens bleibt wie immer die Frage im Raum: Was genau ist eigentlich Baukultur?
Da werden beispielsweise immer wieder konservative Aspekte von Baukultur betont: die Bewahrung und Pflege des baulichen Erbes unserer Kultur. Andere betonen nicht die konservative, sondern die normative Bedeutung des Wortes: Baukultur gleichbedeutend mit „kultiviertem Bauen“. Eine dritte Deutung gewinnt derzeit an Boden: Baukultur nicht als Kulturgut, sondern als Kulturtechnik - als alltagspraktischen Umgang mit unserer gebauten Umwelt. Dieser letzten Deutung folgend, ist Baukultur nicht die Leistung einiger weniger Fachleute, sondern Produkt und Ausdruck der Gesellschaft als Ganzes.
Eine Grundsatzfrage bleibt: Erzählen unsere Dörfer und Städte demnächst noch eine Geschichte? Und wenn ja, welche Geschichte wird jenseits von Zweckmäßigkeit, Marketingstrategie oder Rentabilitätsüberlegungen erzählt? Das, worüber Gebäude Auskunft geben können und sollen, wird kurzerhand eliminiert. Derzeit sind erschreckend viele Gebäude aus der Nachkriegszeit und den Aufbaujahren betroffen: „Wir reißen das Haus einfach ab, das ist problemloser und rechnet sich ohnehin besser“. Darüber muss gesprochen werden. Auch Gründerzeitbauten waren einmal „röhrende Hirsche der Architektur“, die großflächig geopfert wurden. Als was gelten sie heute? Das „Hambacher Architekturgespräch“ geht diesen Fragen nach - Fragen, denen sich eine Kulturnation immer wieder stellen muss.
Übrigens: Mit den letzten Hambacher Architekturgesprächen haben wir hier und da Aufmerksamkeit erreicht - mit der Folge, dass ICOMOS, der Internationale Rat für Denkmalpflege, den 50. Jahrestag seiner Gründung im Herbst 2015 in Rheinland-Pfalz feiern wird. Das Deutsche Nationalkomitee von ICOMOS wurde 1965 in Mainz gegründet. Ein Signal und eine Ehre für unser Land!
Dem Berufsstand könnte es ebenfalls zur Ehre gereichen, wenn er sich an den Gesprächen in Hambach beteiligte. Seien Sie dabei! Hinauf, hinauf zum Schloss, am 9. Juni 2015!
Archivbeitrag vom 18. Mai 2015