Die christlichen Kirchen mutieren von Institutionen zu Organisationen. Ihnen fehlen zunehmend Gemeindeglieder und Geld, um ihre bauliche Substanz zu betreiben und zu erhalten. Die globale Finanzkrise ist auch bei den Kirchen angekommen. Bei ihren Verantwortungs- und Entscheidungsträgern macht sich Ratlosigkeit breit: es wird über Umnutzung, Verkauf oder Abbruch nachgedacht. Hoher Energieverbrauch gerade bei schwer dämmbarer historischer Bausubstanz verursacht hohe Betriebskosten.(Vgl. dazu eine Notiz in der Rhein-Zeitung vom 5.1.2009: „Weihwasser im Kölner Dom ist eingefroren und muss aufgehackt werden“).
10.000 Kirchen stehen bundesweit vor der Schließung. Es müssen weitreichende Entscheidungen getroffen werden. Um baukulturelle Fehlentscheidungen zu vermeiden, sind wir als Architekten auch in der Verantwortung, mit unseren Ideen, unserer Kreativität, unserem Einfühlungsvermögen und unserem Sachverstand zu helfen. Gerade für junge Architekten tut sich ein weites Feld für die Entwicklung neuer Nutzungs- und Gestaltungskonzepte auf.
Der kulturelle Vorsprung, den Architektur durch räumliche und emotionale Kommunikation vermittelt, sollte nicht aufs Spiel gesetzt werden. Verlust von historischer Bausubstanz würde auch Verlust unseres kulturellen Gedächtnisses bedeuten. Unsere kulturelle Mitte ginge verloren.
Das wirft Fragen auf:
Sind Kirchen Immobilien, die wie Wirtschaftsbauten je nach Kassenlage einfach geschlossen, verkauft oder abgebrochen werden können? Wird daran gedacht, dass damit ein unersetzbarer Verlust von Zeugnissen abendländischer Kultur verbunden wäre? Ist man sich bewusst, dass kirchliche Bausubstanz auch ein abstrakter Wert sein kann, der über den materiellen Marktwert hinausreicht und mehr bedeutet als hohler umbauter Raum als Schutz vor Witterungsunbilden. Jede aufgegebene Kirche bedeutet einen Verlust an subjektiver Religiosität, nicht nur durch den wirtschaftlichen Druck von außen, sondern auch durch den Säkularisierungsdruck von innen. Religion hat im Spätkapitalismus an Bedeutung verloren.
Kirchen sind oft erfolgreiche Markenzeichen und städtebauliche Kristallisationspunkte, zumal die Stadt zunehmend in eine amorphe Masse mit vielen mehr oder weniger neutralen Orten zerfällt. Kirchen sind steingewordene Geschichte mit einer kontemplativen Oberflächenstruktur, an der sich das kulturelle Selbstverständnis einer Zeit ablesen lässt. Dies gilt in besonderem Maß für die wenig geschätzte Nachkriegsarchitektur. Deren Intention zur Bauzeit liegt schon relativ weit zurück, aber noch zu nahe, um als historisch respektiert zu werden.(Matthias Ludwig). Die Moderne ist besonders in Gefahr, sie hat noch keine Lobby.
Es ist eine ernste Situation, aber es bewegt sich etwas auf Gottes bunter Wiese.
Die Erhaltung von Bausubstanz ist nur sinnvoll, wenn sie möglichst kompatibel zu ihrem Ursprung genutzt werden kann. Patentrezepte und Katalogvorlagen kann man nicht erwarten. Jede Situation ist anders und fordert von Entscheidern und Planern neben Verantwortungsbewusstsein ein großes Maß an Kreativität, Einfühlungsvermögen und sozialer Kompetenz. Eine dem Charakter des Gebäudes verträgliche Umnutzung kann „Mehrwert“ bedeuten. Es muss ja keine Synagoge oder Moschee sein, allein schon weil diese andere funktionale Anforderungen stellen würden. Dazu kommt, dass dies als falsches Signal verstanden werden könnte, als ob das Christentum sich auf dem Rückzug befinden würde.
Es wird nach neuen Lösungen gesucht, um der Krise zu begegnen; dabei stehen Diskussionen um Schrumpfungsprozesse („intelligent shrinking“) im Vordergrund. In welchen Grenzen eine Umnutzung verträglich ist, lässt sich nicht in feste Regeln fassen. Es ist Fingerspitzengefühl innerhalb einer kritischen Bandbreite gefragt. Eine grenzwertige Umnutzung kann den Symbolgehalt anderer Kirchen beeinträchtigen. Ein radikaler Schrumpfungsprozess hat in Holland zum Beispiel nicht nur die Baumasse, sondern auch die Bedeutung der Kirche und die Zahl der Kirchenbesucher vermindert.
Nachstehend eine unsystematische, eher zufällige Aufstellung von Lösungen, die sich z.T. im grenzwertigen Bereich befinden,aber auch Indizien für die Wandlungsfähigkeit und Überlebenskraft der Kirchen sein können:
- (nahe liegend) Zusammenlegung von Gemeinden über lokale Grenzen hinweg;
- ökumenische Nutzungsteilung;
- Gemeindearbeit in Kirche verlegen und die freiwerdenden Räume für umlie- gende Stadtstrukturen öffnen;
- Nebengebäude (Gemeindehäuser, Pfarrhäuser,) verkaufen, mit dem Erlös Kirchensubstanz sichern, um die Kirche zukunftsfähig zu machen;
- teilgenutzte Räume (ohne Altar) für Familienfeste oder kulturelle Events auf dem Markt anbieten; (in Hamburg wurde ein Pastor für Kulturdialoge eingestellt);
- es gibt Kirchen, in denen Grabstätten (Urnengräber, Kolumbarien) verkauft werden und die als Räume für die Abschieds- und Bestattungskultur genutzt werden;
- eine Sichtbetonkirche in Hameln (St. Bonifatius, Architekt Friedhelm Grundmann) wurde an eine orthodoxe Gemeinde verkauft und total umgestaltet;
- eine unter Denkmalsschutz stehende Kirche in Mannheim (St. Trinitatis 1956,Architekt K.H.Striffler) wurde von der Gemeinde aufgegeben, von der Stadt aktiviert und für neue Nutzungen angeboten (Ausstellungen, Andachtsort für außerkirchliche Gruppen, Konzerte);
- in England (Bristol) wurde eine neugotische Kirche zu einem „indoor-Kletterzentrum“ umgenutzt;
- die Kreuzkirche in Köln wird zu einer Jugendherberge umgebaut;
- Kapellen als kleine nutzbare Einheiten werden wiederentdeckt und auf Zeit vermietet;
- einfache Notkirchen aus der Nachkriegszeit („Zelte in der Wüste“) werden nach Osteuropa exportiert;
- Räume werden als Bücherei oder von sozialen Gruppen (z.B. Amnesty International) genutzt;
- in Bielefeld wurde die Martinikirche zu einem Eventrestaurant („ Zur ewigen Glückseligkeit“) umgebaut;
- in einer Kirche in Rostock wurde auf mehreren Ebenen ein Aquarium eingerichtet;
- die neugotische evangelische Kirche in Limburg, 1945 teilzerstört, erhielt durch Einziehen von zwei Zwischendecken drei Ebenen , im EG Jugendräume, im ersten OG Gemeinderäume und im zweiten OG - erreichbar über Lift - den Kirchenraum. (Arch.Prof. P. Posenenske);
- die Dominikanerkirche in Koblenz (Architekt Dominicus Böhm, 1944 durch Bomben zerstört) wurde zu einem Supermarkt umgenutzt;
- in Problemzonen wurden Suppenküchen für sozial Schwache eingerichtet.
Ein bemerkenswertes Projekt- die seit Jahrzehnten leerstehende neugotische Eliaskirche im Ostberliner Stadtteil Prenzlauerberg zeigt, wie man mit persönlichem Engagement, mit Phantasie und mit Architektenkreativität das Schicksal ungenutzter kirchlicher Bausubstanz in die Hand genommen hat. (Architekt Klaus Block).
Der Architekt stellte ein Gerüst mit mehreren Ebenen ohne Verbindung mit dem historischen Kirchenbaukörper in den Raum, unter Beibehaltung von Chorraum und Orgel für kirchliche Nutzung. Das Ganze wird als Kindermuseum mit wechselnden Ausstellungen, hauseigener Druckerei, Familiencafe und vertikalem Kletterlabyrinth durch mehrere Etagen von zwei engagierten Frauen betrieben, die mit der Gemeinde einen Erbpachtvertrag abgeschlossen haben. Das Projekt hat das umliegende Problemviertel aufgewertet.
Es gehört zu den Leidensgeschichten von kirchlichen Gebäuden, die zwischendurch als Pferdeställe, Schlachthaus, Munitionslager, Gefängnis, Korrektionsanstalt, Irrenhaus oder Fabrik dienen mussten, aber irgendwann wieder Kirche wurden.
Auch die Bedeutung von christlichen Gemeinden und Religiosität war dem Wandel ausgesetzt, man denke nur an die Zeit nach der französischen Revolution und Säkularisierung, als eine starke Welle der Religiosität die Kirchen füllte.
Folgende Leitsätze für den Umgang mit kirchlicher Bausubstanz sollten beachtet werden:
- Immobilienverkauf geht von innen nach außen - die Kirche wird als Letztes veräußert
- Kirchenumnutzung geht vor Verkauf
- Verträgliche Fremdnutzung geht vor beliebiger Nutzung, Ruine geht vor Abbruch
Von allen denkbaren Lösungen ist Abbruch die schlechteste! Abbruch ist irreversibel, ist ultima ratio, legt den Gedanken an Sakrileg nahe. Nach katholischer Auffassung gilt Christus in den gewandelten Hostien im Tabernakel als „leibhaftig gegenwärtig“, d.h. geweihte Kirchen sind Orte „göttlicher Präsenz“.
Wenn man trotz aller Bemühungen keine vertretbare Lösung findet, sollte die Gemeinde von ihrer Kirche Abschied nehmen, das Gebäude entsprechend sichern, und auch ohne Wirtschaftskraft als Ruine stehen lassen, eine geordnete Schließung einleiten und sich auf einen langfristigen Prozess einlassen, bis sich die Interessenlage vielleicht geändert hat. Die Gemeinde nimmt Abschied von ihrer Kirche. Mit dem Verlöschen des „Ewigen Lichtes“ zieht Christus aus seinem Haus aus, es bleibt eine leere Hülle