Seit der niedergeschlagenen 1848/49er Revolution trägt der Deutsche Michel Zipfelmütze. Sie charakterisiert ihn als einfältigen, etwas verpennten Zeitgenossen, der sich von andersartig bekrönten Häuptern sagen lässt, wo’s lang geht. Im Laufe der Geschichte blickt er denn auch auf zu Tschako, Pickelhaube und der ihn ins Verderben führenden Schirmmütze, lässt sich unter den Stahlhelm zwingen, der in einzigartiger Konversion nach dem Krieg sein viel zu spätes Ende als gestanztes Küchensieb oder umfunktioniert zu Koch- und Nachttopf findet. Von da an lernt Michel wählen, wem er traut; beispielsweise Zigarrenrauchern mit Homburg, Zigarettenrauchern mit Prinz-Heinrich-Mütze oder was auch immer Rauchenden mit Strickkäppchen. Politik bietet Alternativen, der Bürger bestimmt, wohin er gehen will.
So schön, so gut; doch die Welt wird schnelllebiger, und mit wachsender Informationsgeschwindigkeit läuft man mit eindeutigen Positionen als Politiker Gefahr, ganz schnell in den Medien und sozialen Netzen zerpflückt zu werden, wenn man sich denn auf #neuland begibt. So wirft man zwar (s)einen Hut in den Ring, setzt ihn aber nach der Wahl nicht zwingend wieder auf, sondern gibt sich modebewusst offen für das Tragen möglichst vieler Kopfbedeckungen.
Michel schaut mangels klaren Angebots jetzt verdrießlich. Sein Vertrauen schwindet, und er will zukünftig selbst mitreden. Weil das Gesetz das aber so nicht vorsieht, versuchen wir’s erstmal mit einem Spiel, am besten „Fang den Hut“. Themen gibt’s viele; das Mainzer Rathaus wäre gut, besser aber eine ECE-Mall, weil’s mit mehr Mitspielern, Investoren beispielsweise noch spannender ist.
Gezogen wird auf dem Mainzer Stadtplan ... wem das zu weit weg ist, der nimmt den von Trier oder Kaiserslautern. Alle haben sie noch weiße Stellen, um die die Politik sich nicht gekümmert hat, weil man mit Visionen keinen Blumentopf und schon gar keine WinnerCap holen kann.
Los geht‘s … erst mal klären, wer anfängt. Der Investor darf, weil er mit seiner Mall eine zündende Idee hatte, und schwupp hat die Politik das Hütchen über. Jetzt stänkert der Bürger, weil beim Planen eigentlich nicht Otto das Sagen, sondern die Stadt die Hoheit hat; und zack sitzt ECE unter der Zippelkapp. Die Geschäftsleute legen ein Hütchen nach, weil sie berechtigt um ihre Existenz bangen, und die Architekten und Stadtplaner setzen mit dem Angebot fachkompetenter Hilfe, derer sich Laien bedienen sollten, noch eins drauf.
Unter vier Hütchen ist’s ganz schön duster für die Politik; Wähler könnten verloren gehen, wenn man sie nicht zu Wort kommen lässt, und wer fachlichen Rat ausschlägt, wirkt unprofessionell. Foren sind die Lösung … und zapp ist die Politik obenauf, sie hatte das vorerst letzte Hütchen und jetzt auch wieder das Heft in der Hand. Man spricht und verhandelt, arbeitet Punkte ab. Zwei, drei wesentliche, zwanzig, dreißig andere lässt der Investor sich abringen, und es entstehen vorbildliche „Leitlinien“, die als wichtigste Ziele neben einer öffentlichen Durchwegung des Einkaufszentrums auch einen Architektenwettbewerb vorsehen, der diesen Namen verdient.
Im Freudentaumel des Erfolgs setzen die Bürger ein fünftes Hütchen obenauf, vergessen dabei aber einen Joker, den der Investor zum Trost nun ziehen darf, weil er schon fünf auf die Mütze bekommen hat. Zwei Wünsche gibt’s für ihn zur freien Wahl, und weil Politiker ja schließlich zum Handeln und nicht zum Rumhampeln gewählt wurden, übernehmen sie jetzt mal wieder die Spielführung, geben die beiden Hauptpunkte dem Investor zurück und setzen damit dem Türmchen die Krone auf. Das derweil traurig schief steht; die Bommel von Michels Kapp im zweiten Zug drückt unten halt raus.
Spaß beiseite: Mainz hat die Chance, ein bedeutendes Areal städtebaulich und architektonisch anspruchsvoll planen und gestalten zu lassen. Sie ist dabei um einen knallharten Gegenspieler nicht zu beneiden, der seine Interessen mit Rückzugsdrohungen durchzusetzen versucht. Doch wenn ein aufwändiger Prozess und engagiertes Miteinander nur zu einer banalen, außen verhübschten Mall mit nichtöffentlichen Räumen hinter Glas - am Abend verschlossen - führen würde, hätte Politik trotz redlichen Bemühens am Ende doch die Narrenkappe von ECE auf dem Kopf.
Dass Politiker nach der Wahl alleine, unter Umständen im Regen stehen, ist systemimmanent; eine ernsthafte Debatte über Bürgerbeteiligung sollte deshalb kein Tabu, sondern Herausforderung sein. Denn Bildung und gute Information vorausgesetzt, bieten direkte Voten auch Rückendeckung für Politik. Utopie? „Wer will, dass die Welt bleibt wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt“, sagte einst Erich Fried, und die Schweiz profitiert sehr davon, dass das Volk und seine Vertreter gemeinsam handeln statt miteinander zu spielen - ein Beispiel: Mitte der 90er konzeptionierte die Stadt Bern neue Tramlinien mit insgesamt 33 Einzelbaustellen. Weil man dort weiß, dass alles Gebaute - auch Tramhaltestellen - zur Anmutung einer Stadt beitragen, führte man zur Suche optimierter Lösungen einen Architektenwettbewerb durch. 2004 wurden alle Berner per Post über das Ergebnis und dessen Kosten informiert; sie lehnten das Vorhaben als zu teuer ab. Für Politik und Verwaltung Anlass, drei Jahre lang mit den Siegerarchitekten am Konzept zu feilen, um es günstiger und verbessert noch einmal zur Wahl stellen zu können.
Die überarbeitete Planung erhielt darauf hin nicht nur die Zustimmung, sondern nach dreijähriger Realisierungszeit auch noch den Bernischen Kultur-Preis für Architektur, Technik und Umwelt „ATU PRIX 2012“ … Hut ab!
Vizepräsident Ernst Wolfgang Eichler, Alzey
Archivbeitrag vom 19. August 2013