Man braucht nur einmal durch die älteren Wohnstraßen unserer Städte zu spazieren, um verblüfft zu bemerken, mit welcher Virtuosität dort zu Beginn des 20. Jahrhunderts die durchweg typisierten, vom Jugendstil geprägten Vorstadtvillen gestaltet sind - das gilt für die baukörperliche Komposition ebenso wie für die phantasievolle Detailgestaltung. Nein, kein Kitsch! Und erstaunlich ist, dass all dies ohne individuelle Verhunzungen über die Jahrzehnte hinweg bis heute gepflegt worden ist. Ganz im Gegenteil zu den fünf Jahrzehnte später entworfenen, ungleich bescheideneren, gleichwohl erkennbar mit ähnlichem architektonischem Anstand entworfenen Reihen- und Einzelhaussiedlungen: die Fenster längst neu, also sprossenlos (oder „in Aspik“), die neuen Haustüren von vulgärer Protzigkeit, darüber lauter verschiedene Vordächer vom Baumarkt. Nichts von all dem harmoniert wirklich mit der vorhandenen Architektur. Wer sodann die Kultur der einfachen Siedlungshäuser vor allem der zwanziger, dreißiger Jahre vor Augen hat und über die ungebrochene Qualität staunt, den graust es erst recht vor den grobschlächtigen Krüppelwalmdachherden, die, von keiner Planungsbehörde, keiner Gestaltungssatzung verhindert, an Dorf- und Stadträndern in die Landschaft poltern.
Wie sich dergleichen erklären lässt? Zum einen damit, dass es spätestens seit den sechziger Jahren kein als verbindlich empfundenes architektonisches Leitbild wie in den Jahrhunderten zuvor mehr gibt und somit auch kein allgemeines stilistisches Übereinkommen - zum anderen damit, dass der Staat sich inzwischen fast gänzlich aus dem Wohnungsbau zurückgezogen und ihn privaten Investoren ausgeliefert hat. Welch großes Glück zum Beispiel, dass die Privatisierung der wunderbaren Werksiedlungen des Ruhrgebietes rechtzeitig aufgeben worden ist! Wen wundert’s da noch, dass es schwer fällt, überhaupt von einer verbindlichen Baukultur zu sprechen, zumal da sich eine öffentlich engagierte Wahrnehmung von Architektur kaum noch erkennen lässt. Sie ereignet sich fast nur noch in Architekturzeitschriften. Denn selbst unsere anspruchsvollen Tages- und Wochenzeitungen - ausgenommen fast nur die Süddeutsche Zeitung - haben sich von der regelmäßigen Architekturkritik zurückgezogen, warum auch immer. Sie wachen nur noch auf, wenn ihnen die bizarren Erfindungen exzentrischer Weltstars vor Augen kommen - und weil dann alle darüber berichten.
Und überall eine bedrückende Modernemüdigkeit, wenn nicht sogar -feindlichkeit, selbst bei manchen (besseren) Architekten, die nun gerne in die Baugeschichte langen. Zurzeit scheint für viele die Zukunft tatsächlich in der Vergangenheit zu liegen, warum sonst all die zum Teil haarsträubend verlogenen Repliken, so wie rings um den Dresdner Neumarkt oder in Braunschweig.
Aber - haben wir denn seit ein paar Jahren nicht die „Bundesstiftung Baukultur“? Ach! Sie begnügt sich mit gelegentlichen Broschüren, darin werden schöne Häuser, Landschaften, Schulen gezeigt. Und alle zwei Jahre tagt ihr Konvent. Zudem lassen ausgerechnet die Architekten von Anfang an kein Interesse an dieser Institution erkennen - und in der Presse, in Rundfunk und Fernsehen findet sie nicht statt. Und der Bundesbauminister? Hat eher die Abteilung Verkehr im Auge.
Dass sich dennoch im ganzen Land ein erstaunliches Engagement für Architektur, Städtebau, Landschaftsplanung ereignet, ist beinahe ein Wunder - ohne jegliche staatliche Mitwirkung. Entstanden sind all diese Aktivitäten aus der Erfahrung, dass wer nichts unternimmt, nichts verändert. Vor allem die Architektenkammern der Bundesländer engagieren sich, von der breiteren Öffentlichkeit fast unbemerkt, in Schulen; sie arrangieren Vorträge, besorgen Ausstellungen, führen Schüler in die Baugeschichte ein, spazieren mit ihnen durch Städte und Parks, lassen sie Gebäude erkunden, lehren sie dabei genau hinzusehen und regen sie zu Zeichnungen oder zum Bau von Pappmodellen an. Material- und Stilkunde, Bautechniken und Umweltschutz sind ebenfalls Themen. Hier und da arbeitet man mit Hochschulen und Museen zusammen - und hilft mit Büchern, schon im Kindergarten. Und weiter: Seit langem schon gibt es jährlich einen „Tag der Architektur“ und einen „Tag des offenen Denkmals“, Hamburg lädt alle drei Jahre zu seinem „Architektursommer“ ein, und nicht selten stehen die Bürger jeglichen Alters dort Schlange.
All dies arrangiert: meist von Architekten. Und damit das Interesse (ohne sie) nicht erlahmt, laden sie Lehrer und deren (Hochschul-)Lehrer zu speziellen Kursen ein - um ihnen ihr Metier zu eröffnen. Daneben haben sich längst auch in etlichen europäischen Städten - wie Graz, Wien, Rotterdam und Amsterdam, in Zürich, Bremen und anderswo - „Häuser der Architektur“ etabliert, mit oft bemerkenswert vielseitigen Programmen, zu denen jedermann eingeladen ist. In Frankfurt am Main wiederum gibt es seit langem das Deutsche Architekturmuseum, in Gelsenkirchen macht das „Europäische Haus der Stadtkultur“ von sich reden, daneben die „Landesinitiative StadtBauKultur“ mit dem Thema „Architektur macht Schule“, in Essen das M:AI, das Museum für Architektur und Ingenieurkunst NRW, ferner die Wüstenrot-Stiftung. Und manchmal verstehen Architekten Kinder sogar als Mitarbeiter zu gewinnen, so wie der Stuttgarter Professor Peter Hübner beim Bau seiner Evangelischen Gesamtschule Gelsenkirchen-Bismarck: Er beteiligte die Schüler am Entwurf ihrer neuen Schule, angelegt wie eine kleine Stadt, ließ sie ihre Vorstellungen formulieren und ihre Klassenzimmer als Modell bauen. Bleibt noch diese Nachricht: Die Bundesstiftung Baukultur, der in Potsdam soeben ein Haus gebaut wurde, bekommt jährlich nicht einmal die Hälfte des Betrages als Etat, mit dem das Architekturzentrum Wien arbeiten darf. Baukultur? Heute? In der Bundesrepublik Deutschland? Doch, doch, als pädagogische Unternehmung - nur nicht „von oben“.
Archivbeitrag vom 20. September 2010