24. August 2012

Der Verlust des Öffentlichen

Porträt Hermann-Josef Ehrenberg
Hermann-Josef Ehrenberg
Foto: Heike Rost, Mainz

Vorstandsmitglied Hermann-Josef Ehrenberg plädiert in der Septemberausgabe 2012 des Deutschen Architektenblattes für die Erhaltung öffentlicher Räume und die Erhaltung einer unabhängigen öffentlichen Meinungsbildung.

Trotz der warnenden Beispiele im In- und Ausland hatten sich Politik und Öffentlichkeit schon lange für die neue, scheinbar paradiesische Stadtmitte entschieden, ein Einkaufs-Center sollte entstehen. Alle schienen begeistert, einschließlich wissenschaftlicher Unterstützung. Das kann nicht falsch sein. Und die Lokalpresse, die vierte Gewalt im Staat, jubelt mit.

Bei einigen blieb eine begründete Skepsis, nicht nur über Art und Größe, sondern auch über Gestalt und Nutzung im Öffentlichen. Dann schien aber doch noch alles gut zu werden - relativ. Die Stadt und der Investor gründeten einen Gestaltungsbeirat und beriefen renommierte Architekten und Stadtplaner, allesamt unabhängig und weit ab einer wirtschaftlichen Verbandelung mit dem Bauherrn oder der Stadtpolitik. Ihr Auftrag: das neue Konsumschiff inmitten des Stadtzentrums, nicht weit von der historischen Keimzelle und an exponierter Lage im öffentlichen Raum zu optimieren, zumindest gestalterisch.

Das anfängliche Misstrauen in der Kollegenrunde wich rasch einer fachkundigen Debatte über Maß und Material, über Proportionen und Funktionen, über Kosten und Nutzen. Das Projekt selbst wurde natürlich nicht gekippt, aber ein Teil der Fassade konnte optimiert werden. Nein, es musste eine andere Form bekommen, um die zwingenden Funktionsabläufe innerhalb des Gebäudes reibungslos zu gewährleisten. Das Innen bedingt das Außen, wird zum Bestandteil des öffentlichen Raums. Es handelte sich also um eine stadthistorische Entscheidung.

Der öffentliche Raum war, ist und bleibt das Zentrale der Stadt. Er de?niert das Urbane als Begegnungsraum des Fremden und Anderen. Er ist nicht nur traditionell der Ort von Markt und Handel, sondern auch Bühne für Individualität und Gemeinschaft. Er ist genau das Gegenteil vom Privaten, auch wenn zahlreiche Bemühungen von Polizei, Politik und Journal für Recht und Ordnung sorgen wollen. Nicht alles, was als öffentliche Erwartung propagiert wird, ist tatsächlich res publica. Freiraum und Architektur sind Spiegelbilder und Repräsentanten einer städtischen Geisteshaltung, ob und wie das Fremde und Unangenehme Platz ?ndet. Bereits in den 60er Jahren wurde beklagt, dass die Probleme unserer Städte nicht ein Versagen architektonischen Gestaltens seien, sondern die Folge ungelöster sozialer Wandlungen (Heide Berndt). Bis in die heutige Zeit scheint das Ideal die Kleinstadt im Großen zu sein, wo die Piazza italienischer Städte als ein Ort der Ausgelassenheit, des Beschaulichen und Überschaubaren als Gegenentwurf zur modernen Stadt verstanden wird (Hanno Rauterberg).

Da bietet natürlich eine Mall genau das Richtige. Eine neue Öffentlichkeit, ein nur scheinbar öffentlicher Raum, in dem der Eigentümer seine eigene Haus- und Hofordnung erlässt. Die Öffentlichkeit ist bedingt. Das Private wird zum Öffentlichen. Das intime Handy-Date oder die unternehmerische Personaldebatte ist nicht zu überhören. Das nennt man „Tyrannei der Intimität“ (Richard Sennett 1974), mit der der öffentliche Raum als Bühne dominanter Akteure missbraucht wird. Die traditionellen Verhaltensmuster von Sitte, Regeln und Gestik werden außer Kraft gesetzt. „Wir sind durch nichts mehr getrennt, aber auch durch nichts verbunden“, sagte Hanno Rauterberg (2001) zur Zukunft des öffentlichen Raums im Deutschen Architektenblatt. Die security vor Edelboutiquen, die Videoüberwachung bei Espresso und Prosecco, die Haftung rund um die Uhr versprechen einer Gesellschaftselite Privatsphäre in romantischer Idylle und Sicherheit. Das klassische Bild der Stadt (Kevin Lynch) ist Vergangenheit. Die Zukunft hat die European Research Group des International Council of Shoppingcenters (ICSC) mit „third place“ unumwunden beschrieben: Den Aufkauf des öffentlichen Raums! (immobilienmanager, gesehen am 24.07.2012).

Die attraktive Scheinöffentlichkeit lenkt ab von den städtebaulichen und sozialen Vernachlässigungen und Verwerfungen an anderen Orten. Diese sind der materiellen und sozialen Verwahrlosung ausgeliefert. Der Streit um die ohnehin fehlenden Mittel wird immer schärfer geführt; der Mächtigere gewinnt. Die öffentlichen Räume, denen die Lobby fehlt, werden verlieren und ihre historische Identität und Eigenart einbüßen. Sie werden zum Spiegelbild ökonomischer und politischer Ohnmacht. Ob sich alle in jener Stadt dessen bewusst gewesen sind? Euphorische Bejahung, selbst mit professoraler Überzeugung, macht Kritik fraglich. Die lokale Presse hat sich ohne wenn und aber dem Projekt verschrieben. Als dann das Fachgremium der Architektenschaft tatsächlich und einvernehmlich fundierte Gründe für eine Änderung der schmucken, runden Bilderbuchfassade einforderte, wurde das Projekt endgültig zum Privatissimum lokaler Politikgrößen und journalistischer Meinungsmacher. „Das (…) Konzept mag aus fachlicher Sicht schlüssig sein“, gestand die Presse zwar zu, aber trotzdem, der Bürger fühle sich „verhohnepiepelt“. Die öffentlich bestellte, einhellige und sachlich begründete Bewertung der Baufachleute wurde von der vierten Gewalt ignoriert. Das ist Machtmissbrauch.

Als in Braunschweig die Lokalzeitung nicht genau und umfassend, zu euphemistisch über die dortige Ansiedlung des neuen Einkaufscenters schrieb, wurde ihr 2005 vom Deutschen Presserat eine Rüge wegen fehlender journalistischer Sorgfaltsp?icht erteilt (https://de.wikipedia.org/wiki/Braunschweiger_Zeitung, gesehen am 22.07.2012). Es ist gut zu wissen, dass dafür noch Platz im Öffentlichen Raum ist.

 

Archivbeitrag vom 24. August 2012