19. Oktober 2023
Es tut sich was im Ahrtal
Frau Schmidt, Sie haben Architektur in Koblenz studiert und sind seit mehr als acht Jahren im Büro haid ARCHITEKTEN I INGENIEURE tätig. Wie hat sich die Flutkatastrophe auf Ihre Arbeit ausgewirkt?
Wir haben deutlich mehr Anfragen, vor allem für die Übernahme von Bauleistungen. Denn hier ist besonderes Know-how gefragt. Nicht selten werden wir von Versicherungen eingeschaltet, wenn es auf Baustellen zu Problemen gekommen ist. Die enge Zusammenarbeit mit den Versicherungen wegen einer Flutkatastrophe ist ein Novum für mich, funktioniert aber weitgehend reibungslos.
Herr Herges, vor welchen besonderen Herausforderungen stehen Sie aktuell?
Wir stehen vor einer Vielzahl von Fragen, die es zu klären gilt. Was hat Bestandsschutz? Wie sieht es mit dem Brandschutz aus? Wie muss ich mit Objekten umgehen, die anders umgebaut wurden, als einst genehmigt? Beispielsweise mit einem Fremdenzimmer, das jahrzehntelang als Wohnraum genutzt wurde? Stichwort Nutzungsänderungsantrag. Falls kein Versicherungsschutz besteht, unterstützt die ISB mit finanziellen Mitteln. Dabei kann die Endsumme jedoch vom Bewilligungsbescheid abweichen. Gegebenenfalls muss dann noch ein Kredit aufgenommen werden. Diese und viele weitere Aspekte müssen berücksichtigt, von vornherein mitgedacht und den Bauherren und Baufachleuten verständlich erklärt werden. Als weitere Herausforderung kommt teilweise der sogenannte „Pfusch am Bau“ hinzu: Nach der Flutkatastrophe war der Aktionismus groß, die Handwerker schnell vor Ort. Doch nicht immer wurde sach- und fachgerecht saniert. Nachbesserungsbedarf besteht primär bei Problemen mit der Statik oder der Abdichtung.
Schmidt: Beim Wiederaufbau ist man als Allroundtalent gefragt. Wir planen, stellen Bauanträge, prüfen Angebote, stimmen uns mit den Versicherungen ab ... Und nicht zu vergessen: Wir leisten immer wieder auch seelische Hilfe. Denn die Betroffenen, Bauleute wie Handwerksbetriebe, wollen über die Flut sprechen, um die Situation besser verstehen und verarbeiten zu können.
Wie schreitet der Wiederaufbau voran?
Herges: Allen Herausforderungen zum Trotz schreitet der Wiederaufbau relativ gut voran. Viele private Bauherrinnen und Bauherren sind bereits wieder eingezogen. Oft fehlt nur noch die Freiraumgestaltung. Anders sieht es im öffentlichen und gewerblichen Bereich aus: Bis die, für die Tourismusregion Ahrtal wichtigen Infrastrukturen, die Ahrtalbahn in Gänze und die Gastronomie wiederaufgebaut sind, wird es wohl noch einige Zeit dauern. Verfahren müssten vereinfacht und entschlackt werden, um das Ganze zu beschleunigen.
Schmidt: Vom Bebauungsplan bis zur Realisierung ist es ein weiter Weg. Umso wichtiger ist es, Prozesse transparent zu machen! Das sorgt für mehr Verständnis in der Bevölkerung und beugt Frust vor.
Konnten Sie bereits Projekte fertigstellen?
Schmidt: Ja, aktuell betreue ich drei Wiederaufbauprojekte in Dernau und Altenburg sowie einen Neubau in Altenburg. Aufgrund eines Ölschadens musste hier das Haus abgerissen werden und wird nun an gleicher Stelle neu errichtet. Der Bauantrag wurde bereits eingereicht und genehmigt, sodass die Bauarbeiten noch Ende dieses Jahres beginnen können. Geplant ist ein Hybridbau aus Holz und massivem Eingangsgeschoss. Dank eines hohen Vorfertigungsgrades ist mit einer kurzen Bauphase zu rechnen; die Bauherren können nächstes Jahr einziehen.
Das Gros der knapp 20 Projekte, die wir im Zusammenhang mit der Flutkatastrophe bearbeiten, sind jedoch Wiederaufbauten. Ein Zweifamilienhaus in Dernau beispielsweise ist schon wiederaufgebaut und bewohnt. Es fehlt nur noch der Außenputz.
Was kann hochwasserangepasstes Bauen bewirken? Wo sind Grenzen?
Schmidt: Getreu dem Motto „Das nächste Hochwasser kommt bestimmt“ hat die Verbandsgemeinde Altenahr eine Leitlinie für hochwasserangepasstes Bauen herausgegeben. Schließlich wird das Hochwasserrisiko mit HQ 100 als recht hoch eingestuft. Um Gefahren vorzubeugen, dürfen etwa in Dernau bis 1,40 Meter Höhe keine Wohnräume errichtet werden.
Herges: Beim hochwasserangepassten Bauen gibt es drei verschiedene Strategien: Ausweichen, Widerstehen und Anpassen. Es kommen jedoch nicht alle Strategien im Ahrtal in Frage. Zum einen geben es die innerörtlichen Bebauungsstrukturen nicht her, zum anderen sind die Grundstücke schlicht nicht groß genug für Barrieresysteme. Um Retentionsraum zu schaffen, müsste man auch über gemeinschaftliche (kommunale) Flächen nachdenken. Die einzige Möglichkeit ist also „Anpassen“, indem man bewusst in Kauf nimmt, dass ein Haus bei Hochwasser eventuell (teilweise) geflutet wird und die Raumnutzung entsprechend anpasst. Dadurch fällt in der Regel die Erdgeschosszone als Wohnraum weg. Falls möglich, kann das Haus aufgeständert (Ausweichen) oder in die Höhe gebaut werden. Auch herkömmliche Konstruktionen und Bauweisen muss man überdenken. Soll man weiterhin auf regionaltypische Baustoffe wie z.B. Bims setzen, der natürlich die Eigenschaft besitzt, Feuchtigkeit aufzusaugen wie ein Schwamm? Oder lieber auf Betonkonstruktionen ausweichen? Über kurz oder lang werden sich die Bauweisen und vor allem auch das Ortsbild jedenfalls verändern.
Schmidt: Hochwasserangepasstes Bauen gilt nur für den Neubau! Bei Wiederaufbauten greift der Bestandsschutz. Sprich: Während die einen neu bauen und gegebenenfalls für die Barrierefreiheit einen Aufzug einbauen, darf im benachbarten Mehrfamilienwohnhaus die Souterrainwohnungen saniert und weiterhin für Wohnzwecke genutzt werden.
Herges: Bei der Flut wurden schätzungsweise mehr als 9.000 Gebäude im Ahrtal zerstört oder (stark) beschädigt. Die allermeisten Häuser können an Ort und Stelle saniert oder wiederaufgebaut werden. Nur wenige zerstörte Häuser, die im vorläufigen besonderen Gefahrenbereich innerhalb des Überschwemmungsgebietes lagen (gelbe Zone), können dort nicht wiederaufgebaut werden.
Welche Chancen liegen im Wiederaufbau? Stichwort Baukultur!
Schmidt: Ältere Fachwerkhäuser sind wohl für immer verloren. Aber natürlich bietet der Wiederaufbau auch Chancen, insbesondere durch ganzheitliche Entwicklungskonzepte.
Herges: In Ahrweiler beispielsweise gibt es eine Gestaltungssatzung. Wünschenswert wäre auch das Einbeziehen eines Gestaltungsbeirats – ein Fachgremium von Planern, das die Kommunen berät.
Wie läuft die Zusammenarbeit mit den Bauämtern?
Herges: Die Zusammenarbeit läuft gut, auch wenn die Bauämter vor einer Mammutaufgabe stehen und mit Sicherheit an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen. Schließlich waren die Bauämter auch schon vor der Flut teils unterbesetzt und nicht zu vergessen, viele Mitarbeiter waren selbst von der Katastrophe persönlich betroffen. Vor uns liegt noch ein langer Weg. Aber es tut sich stetig viel im Ahrtal. Nur gemeinsam werden wir den Wiederaufbau meistern, damit alles wieder bunt wird.
Das Interview führt Lena Pröhl.