18. Oktober 2018

Mehr Sensibilität

Kristina Oldenburg, Matthias Rösch, Hermann-Josef Ehrenberg, Joachim Seuling, Christiane Grüne, Prof. Ulrike Kirchner und Alexandra Wüst (v.l.n.r.)
Barrierefreiheit umsetzen – darin war sich die abschließende Gesprächsrunde einig – ist letztendlich eine Frage des Bewusstseins.
Foto: Markus Kohz, Mainz

Resümee der Konferenz zum inklusiven Bauen und Gestalten in Koblenz am 12. September 2018 in Koblenz

Auf der Festung Ehrenbreitstein ging es bei der Tagung „Inklusiv Gestalten“ um viele Selbstverständlichkeiten und einige Hürden. Der historische Veranstaltungsort selbst war Zeugnis dafür, dass Barrierefreiheit weniger eine Sache von Vorschriften und Normen als von gelebter Sensibilität und gutem Willen ist. Das historische Erbe anlässlich der BUGA 2011 durchgehend barrierefrei erlebbar zu machen, zwang alle noch mehr als im Neubau zu intelligenten und pragmatischen Lösungen. Nach sieben Jahren wurde aber auch klar: Barrierefreiheit bleibt eine Aufgabe. Denn nicht jede Lösung funktioniert dauerhaft und auf mancher Leitstreifen verschwindet für der Taststock unvermittelt unterm dauerhaft-provisorischen Kiosk.

Die Eröffnung des Nachmittags kam von Thomas Metz. Der Architekt, Generaldirektor der GDKE und damit Herr über die Festung Ehrenbreitstein lenkte den Blick auf die lange Festungsgeschichte und die noch weit länger zurückreichende Siedlungsgeschichte auf dem Felssporn mit Blick über den Zusammenfluss von Mosel und Rhein. Aus dem Blickwinkel dieser oft gewaltsamen Geschichte von Kriegen und Eroberungen reflektierte er das gesellschaftliche Verständnis von Versehrtheit, Behinderung und Inklusion.

Der Sozialstaatssekretär Dr. Alexander Wilhelm, zuständig auch für die Felder Gesundheit und Demografie, betonte ebenfalls die gesellschaftliche Bedeutung des Themas Inklusion. Sein Blick ging auf eine alternde Gesellschaft, in der sich eigentlich jeder irgendwann mit der einen oder anderen Einschränkung auseinanderzusetzen hat. Solche subjektive Barrieren könnten aber, so Dr. Wilhelm, durch inklusives Planen und Gestalten überwunden werden. Dazu rief er auf.

Als Landschaftsarchitekt sieht Hermann-Josef Ehrenberg, der als Vorstandsmitglied der Architektenkammer Rheinland-Pfalz sprach, wichtige Aufgaben der Inklusion im öffentlichen Raum, im Freiraum und in dem Erlebbar-Machen von Landschaft und Natur. Auf den scheinbaren Widerspruch einer barrierefreien Wildnis ging er dabei ebenso ein, wie auf die Tatsache, dass es gerade die Natur ist, die jedem Menschen seine individuellen Grenzen aufzeigt, auch, wenn diese unterschiedlich weit gesteckt sind. Ehrenberg leitete daraus die Forderung nach einem Perspektivwechsel ab.

Das erklärt den Perspektivenwechsel und den strategischen Ansatz, nicht nur den sogenannten 'Behinderten' in den Blick zu nehmen, sondern auch dessen 'kontextbedingte Barrieren' systematisch zu überprüfen. Inklusion versteht sich dann als ein gesamtgesellschaftliches Vorhaben und ein Fernziel für alle sozialen Bereiche und Lebensphasen.
Hermann-Josef Ehrenberg

Von der gebauten Barriere zur barrierefreien Festung

Manfred Bullinger von der Generaldirektion Kulturelles Erbe und Matthias Rösch als Landesbeauftragter für die Belange behinderter Menschen blicken auf eine lange und erfolgreiche Zusammenarbeit zurück. Ihre Aufgabe zur Bundesgartenschau 2011 war es, aus der Festung Ehrenbreitstein, einer wie sie es nannten „gebauten Barriere" eine „barrierefreie Festung“ zu machen. Keine leichte Aufgabe im historischen Kontext und einem so großen und komplexen Areal wie dem Festungsplateau und seinen Bauten.

Für die Bundesgartenschau sollten alle relevanten Innenräume, aber auch Freianlagen, Türme und Dachgärten erschlossen werden. Und schließlich stellte der Felssporn selbst eine veritable Barriere dar. Nicht umsonst war genau hier die Festungsanlage errichtet worden. Somit kam alles auf den Prüfstand. Die barrierefreie Zugänglichkeit des Plateaus wurde über den Schrägaufzug vom Stadtteil Ehrenbreitstein zu Füßen des Plateaus erreicht. Der Aufzug ersetzte die alte Sesselbahn. Auch die besonders attraktive Seilbahn, die das Plateau mit dem jenseitigen Flussufer und dem Deutschen Eck verbindet, ist barrierefrei.

In der Festungsanlage selbst sorgen Rampen, Aufzüge und Plattformlifte ebenso wie ein Leitsystem aus Orientierungskanten, Orientierungssteinen, Leitstreifen, Audiostationen und Taststeinen für die barrierefreie Erschließung. Immer wieder waren die denkmalpflegerischen Belange, die Nutzungsanforderungen einer Großveranstltung und die Aspekte der Barrierefreiheit miteinander in Übereinstimmung zu bringen. Wie das im Einzelnen gelang, machten Rösch und Bullinger an Beispielen wie der Nutzung eines Bombentreffers aus dem Zweiten Weltkrieg für eine Aufzugsanlage, der Erschließung der Dachgärten für Rollstuhlfahrer oder dem durchgehenden Pflasterstreifen als Leitsystem für Sehbehinderte deutlich.

Wichtig war beiden aber auch, kritisch mit den eigenen Entscheidungen umzugehen. Im Gebrauch hat sich nicht jede Lösung als ideal erwiesen. Oder der unachtsame Gebrauch macht die gute Lösung zunichte. So wurden beispielsweise auf der Aussichtsterrasse in der Zwischenzeit Orientierungsstreifen vereinzelt durch Installationen verstellt, die nur temporär gedacht waren, nun aber dauerhaft den Taststreifen verstellen. Das Beispiel zeigt: Barrierefreiheit muss im Gebrauch angepasst, weiter entwickelt und verteidigt werden. Und: Sie ist ein stetiger Lernprozess für alle Beteiligten.

Gemeinschaft organisieren

Wie die Sanierung eines einst wenig beliebten Gebietes gelingen kann, erläuterten die Bewohnerin Karin Hoffmann, der Projektleiter Joachim Fischer und die Quartiersmanagerin Maria Ohlig aus dem Projekt "Nachbarschaftliches Wohnen" in der Trierer Thysusstraße.

Die Entwicklung zweier Brachflächen sowie eines leer stehenden Bestandsgebäudes waren 2011 Anlass für die Inangriffnahme des dreiteiligen Modell- und Entwicklungsvorhabens "Neues Wohnen in der Thyrsusstraße", mit dem die WOGEBE Trier breite Bevölkerungsgruppen von der Attraktivität des Wohnstandorts Thyrsusstraße überzeugt. Das "Nachbarschaftlichen Wohnen" ergänzt die beiden anderen Teilprojekte "Wohnen im Quartier" und "Junges Wohnen".

Neben einem spezifischen Profil jedes einzelnen Bauvorhabens sind den Baumaßnahmen gemeinsam: Verbindung von Wohnungsangebot und Quartiersentwicklung, Gewährleistung eines Zusatznutzens zum Wohnen, kostengünstiges Bauen, bezahlbares Wohnen für untere und mittlere Einkommensgruppen, Mischung der Finanzierungsformen des Wohnungsangebotes, durchgehende Barrierefreiheit im Neubau, finanzierbare energetische Qualität und Förderung guter Nachbarschaft in dem Wohnanlagen. Das Projekt wird mit Hilfe der Sozialen Wohnraumförderung umgesetzt.

Leitfäden zum Barrierefreien Planen und Bauen

Wie die Voraussetzungen für integrative Wohnprojekte im Neubau wie im Bestand praktisch umzusetzen sind, dazu geben die beiden Leitfäden des Ministeriums der Finanzen, die zusammen mit dem Landesbeauftragten für die Belange behinderter Menschen und dem Sozialministerium herausgegeben wurden, Auskunft. Marc Derichweiler und Bianca Klein vom Ministerium der Finanzen stellten sie vor. Sie können beim Ministerium direkt bezogen oder auch digital von den Internetseiten des Ministeriums herunter geladen werden:

 

  • Barrierefrei Bauen - Empfehlungen für den Wohnungsbestand
    Stand 9/2017 (PDF-Datei 7,36 MB) MEHR
  • Barrierefrei Bauen - Leitfaden für die Planung
    Stand 9/2017 (PDF-Datei 4,42 MB) MEHR

Inklusionsverträglichkeitsprüfung

In der Schlussrunde waren sich alle einig: Barrierefreiheit ist eine Daueraufgabe. Hermann-Josef Ehrenberg griff auf seine Erfahrungen als Landschaftsarchitekt zurück: Umweltverträglichkeitsprüfungen seien für die Grünraum und Freiflächenplanung seit vielen Jahren Standardinstrument. Er regte an, in ähnlich selbstverständlicher Art neue Bauprojekte einer "Inklusionsverträglichkeitsprüfung" zu unterziehen.

           

Archivbeitrag vom 18. Oktober 2018