20. April 2021

Take a walk on the wild side

Regionalkonferenz Inklusion und Wildnis, Natur, Freizeit | Sind Barrierefreiheit und Wildnis ein Widerspruch? Wie erleben Menschen mit Behinderungen das Thema Wildnis? Um diese und viele weitere Fragen ging es bei der 13. Regionalkonferenz „Inklusiv Gestalten“ am 18. März 2021.

Jürgen Dusel hatte am 18. März 2021 gemeinsam mit der Bundesarchitektenkammer und mit der Architektenkammer Rheinland-Pfalz eingeladen – zum zweiten Mal nach 2018, diesmal zu einem Livestream im Internet.

Inklusion sei „das Betriebssystem unserer Demokratie“, stellte Jürgen Dusel, der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, gleich zu Beginn klar, denn Teilhabe für alle ist Menschenrecht. Dass die Umsetzung dieses Menschenrechtes in freier Landschaft, in Wäldern, am Strand und in den Bergen nicht die leichteste Aufgabe ist, wollte niemand als Argument gegen den Versuch gelten lassen.

Denn etwa 13,5 Millionen Menschen leben in Deutschland mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen. Sie alle eint das Bedürfnis nach Erholung und Freizeit unter freiem Himmel, nach Kontakt mit der Natur. Nur rund drei Prozent von ihnen werden übrigens mit Beeinträchtigungen geboren. Der weit überwiegende Teil erwirbt sie im Laufe des Lebens – was eben auch als Botschaft an die anderen knapp 70 Millionen verstanden werden darf: Irgendwann kann man dazugehören - vorübergehend oder dauerhaft.

Freizeit und Erholung gehören zum Leben dazu. Menschen mit Beeinträchtigungen sollten selbst entscheiden können, was sie machen und welche Risiken sie eingehen wollen.
Jürgen Dusel

Barrierefreie Wege durchs Unterholz sind also keine unrealistischen Forderungen, sondern eine Frage kluger Entscheidungen und guter Gestaltung, wollten die Referentinnen und Referenten des Nachmittags gemeinsam mit der ZDF-Sportjournalistin Katrin Müller- Hohenstein, die die Regionalkonferenzen traditionell moderiert, unter Beweis stellen. Doch das Thema hat Tücken.

Zu den vielfach schon überwundenen Klassikern der Diskussion um Barrierefreiheit (Kosten, Normung, Bestandsschutz) kommt die ganz grundsätzliche Frage, wieviel Infrastruktur der Wildnis zuzumuten sei und ob es nicht auch zur menschlichen Grunderfahrung von Natur gehört, dass nicht alles erreichbar ist. Die umweltpolitische Leitlinie des Naturschutzes, das „Natur Natur sein lassen“, setzt dem Eingriff Grenzen. Wo zum Wohl des Artenschutzes auf weiten Flächen der Nationalparke umgestürzte Bäume liegen bleiben, finden Pilze, Vögel, Insekten, Würmer und junge Bäume ihren Lebensraum, wachsen resiliente Biotope. Schön, aber für viele Menschen kein einfaches Terrain. Dogmatik verbietet sich für jede Seite.

Dass gerade der rheinland-pfälzisch-saarländische Nationalpark Hunsrück-Hochwald sich das barrierefreie Erleben von Wildnis ins Programm geschrieben hat, darauf verwies Hermann-Josef Ehrenberg, Landschaftsarchitekt, Vorstandsmitglied der Kammer und Mitinitiator der Regionalkonferenz. Er fasste das Thema weit auf, indem er auch die klimagerechte Umgestaltung der Städte, die Schaffung von öffentlichen Grün- und Freiräumen oder von kleinen, naturnahen Räumen in den Städten als inklusive Zukunftsaufgabe definierte. Dem pflichtete Mattias Rösch bei. Der rheinland-pfälzische Beauftragte für Menschen mit Behinderungen verwies auf den Ort, von dem der Livestream gesendet wurde, wo die Gebärden- gemeinsam mit den zugeschalteten Schriftdolmetschern die Barrierefreiheit des Nachmittags sicherten. In einer alten Lokhalle, zwischen Bahngleisen und Industriebrachen finden Logistikunternehmen und die Bienenvölker eines „Soziale Stadt“-Projektes Platz. Die Grenzziehung zwischen Natur und Stadt fällt umso schwerer, je genauer man hinsieht: Bis zu den ersten Storchennestern und Auflächen am Rheinufer ist es nicht weit – bis zum Containerhafen und den Schott-Glaswerken auch nicht. Barrierefreies Naturerlebnis kann für Rösch vor der Haustüre beginnen.

In solcher Wildheit fühlt sich auch Michael Schreiner wohl. Der Berater für barrierefreien Tourismus aus Dahn hat die Errichtung eines 120 Kilometer langen, barrierefreien Radweges von Worms zur französischen Grenze nach Lauterbourg begleitet, mit seinem Rolli aber auch schon die Viktoria Fälle und die südamerikanischen Fälle von Iguazú bereist oder eine Tour mit öffentlichen Bussen durch Zimbabwe gewagt. Drei Best-Practice-Beispiele und zwei Impulsvorträge zeigten im weiteren Programm anschaulich, wie Inklusion draußen gelingen kann und wie durch Kreativität und Expertise seitens der (Landschafts-)Architektinnen und Architekten sowie im Dialog mit Betroffenen und Eigentümern gute Lösungen gefunden werden können.

Zuvor nahmen die beiden Impulsvorträge von Dr. Antje Schönwald und Dr. Sigrid Arnade den Faden von zwei Seiten auf. Schönwald widmete ihren Impuls der Naturwahrnehmung im kulturellen Kontext. Arnade setzte sich mit dem Menschenrecht der Teilhabe und der UN-Behindertenrechtskonvention auseinander.

Praktisches Anschauungsmaterial zur Frage, wie das denn zu bewerkstelligen sei: Inklusive Wege durchs Unterholz für Gehbehinderte, Blinde, Gehörlose, Menschen mit Lernschwierigkeiten und die vielen anderen speziellen Bedürfnisse lieferten die Best-Practice-Beispiele:

Im Nationalpark Hunsrück-Hochwald führen unterschiedliche Blindentouren zu Erlebnispunkten. Wanderführer, Tasttafeln, akustische Erläuterungen - alles ist auf ein optimales Erleben von Flora und Fauna abgestimmt.

Dem mythischen Naturerlebnis ist die Neugestaltung des Loreleyplateaus gewidmet. Knabe baukonsult und plandrei Landschaftsarchitektur GmbH aus Erfurt ist es gelungen, gleichzeitig für Barrierefreiheit und mehr Natur zu sorgen: mehr ökologisch wichtige Trockenrasenflächen, Eidechsenrefugien und Insektenweiden. Viel Unnötiges wurde aus der Natur entfernt. Gleichzeitig führt ein neuer „Strahlenweg“ mit Leitstreifen und rollstuhlerprobtem Pflaster bis an die Felsenkante. Für Absturz- und Überklettersicherungen wurden elegante Lösungen gefunden, die mehr an LandArt als an ein Geländer erinnern.

Auf dem Gelände der brandenburgischen Beelitz-Heilstätten gibt es sogar einen Baumwipfelpfad für Rollifahrer. Darunter bleibt eine historische Ruine, die nach und nach von der Natur zurückerobert wird, ganz sich selbst überlassen.

„Take a walk on the wild side“ - mit diesem Zitat der Musiklegende Lou Reed hatte Jürgen Dusel gleich zu Beginn die Aufforderung verbunden, Fähigkeiten, Leidenschaft, Expertise und Kreativität auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft zu nutzen. Ihr waren mehr als 1.000 Gäste im Livestream gefolgt.

  

Die Aufzeichnung ist weiterhin abrufbar: MEHR